Scheitern: Wie können wir damit umgehen?

I. Einleitung

Das Thema „Scheitern“ hat sich zu einem medialen Dauerthema – mit weiteren Aufstiegschancen – entwickelt. Wenn man bei Google nach „Literatur zum Scheitern“ sucht, erhält man hierzu über 10 Seiten Buchtitel vorgeschlagen. Deutschlandweit gibt es die sog. fuck  up nights, in denen zumeist Jungunternehmer über ihre Erfahrungen, das selbstgesteckte unternehmerische Ziel nicht erreicht zu haben, berichten. Im Fernsehen findet man zu diesem Thema Reportagen[1] und selbst vor musealen Darstellungen macht dieses Thema nicht halt: in Südschweden gibt es seit diesem Sommer ein „Museum of Failure“[2].

II. Warum ist dieses Thema so interessant?

In diesem Zusammenhang fallen einem plakative Sätze wie „aus Fehlern lernt man“ ein. Aber muss man das unbedingt selbst erleben? Denn am billigsten kann man aus den Fehlern lernen, die andere machen.

Scheitern soll das „letzte Tabu“ unserer Gesellschaft sein. Wieso weckt es unser Interesse?

Zum einen spielt dabei die Schnelligkeit, mit der sich derzeit unsere Lebensumstände verändern, eine Rolle. Das Umfeld der jeweiligen Berufsbilder ändert sich fortlaufend durch die technische Entwicklung. Die Zeitdauer, in der man für den gleichen Arbeitgeber tätig ist, ist rückläufig. Die Bindungsdauer familiärer Strukturen nimmt ab. Damit einher geht die Frage, ob man mit jeder dieser sich stellenden Änderungen zurechtkommt. Diese Frage ist verbunden mit dem Gefühl von Unsicherheit und Angst, und damit auch mit einer Furcht vor dem Scheitern.

Nach Heinz Bude hat eine gesellschaftliche Wende stattgefunden: Weg von den Grenzen, was man darf, hin zu dem, was man kann[3]. Wir werden nicht mehr durch uns gesetzte Grenzen limitiert. Vielmehr ist alles möglich geworden. Das Übersehen einer Möglichkeit, das Verpassen einer Gelegenheit erzeugt eine Stimmung der Angst, die Sorge etwas zu verpassen, die Sorge zu scheitern.

Und zu guter Letzt wird mit der öffentlichen Darstellung, wie einzelne in ihrem Leben gescheitert sind, das in der Bevölkerung vorhandene Bedürfnis nach Voyeurismus bedient. Die Grenzen des Privaten fallen immer weiter. Gerne wird in die Privatsphäre anderer Menschen geschaut und wenn man als Zuschauer deren Darstellungen ihrer persönlichen negativen Lebenserlebnisse mitbekommt, mag dies zu einem  „Da habe ich ja noch mal Glück gehabt-Gefühl“ und in Folge dessen zur eigenen Beruhigung führen.

Dabei wird nahezu jeder Mensch zumindest eines der folgenden Erlebnisse schon einmal in seinem Leben gehabt haben:

  • Durch eine Prüfung gefallen?
  • Auf eine Stelle beworben und diese nicht bekommen haben?
  • Vom Freund/Von der Freundin verlassen worden sein?
  • Die berufliche Anstellung wurde gekündigt?
  • Die unternehmerische Idee musste aufgegeben und der eigene Geschäftsbetrieb geschlossen werden?

All dies sind Erlebnisse in unserem Leben, in denen wir ein gewünschtes und angestrebtes Ziel nicht erreicht haben.

III. Warum reagiert hierauf jeder anders?

Relevant für die Beantwortung der Frage, wann für uns aus einem Nichterreichen eines Zieles ein Scheitern werden kann, können folgende Aspekte sein:

1. Eigene Wertmaßstäbe

Wenn eigene Wertmaßstäbe betroffen sind und damit sich Ereignisse als unvereinbar mit dem eigenen Selbst- und Weltbild darstellen, sprechen Menschen vom Scheitern. Für diejenigen von uns, für die (berufliche) Leistung einen hohen Wert verkörpert, mit dem sie sich identifizieren, ist eine nicht erfolgte Beförderung sehr oft mit dem Gefühl gescheitert zu sein, verbunden. Anders wird diese Situation vom jemandem bewertet werden, dem es primär auf den Inhalt und Sinn seiner Arbeit ankommt und nicht auf seine berufliche Stellung.

2. Frage der Nachholbarkeit

Von weiterer Bedeutung ist die Frage, in wieweit das, was ein Mensch nicht erreicht hat, in seinem Leben noch nachholbar ist. Wenn ich im zweiten Semester meines Studiums durch eine Prüfung falle und mich aufgrund dessen entscheide, ein anderes Studium zu wählen, hat dies eine andere Relevanz für mich, als das zwangsweise Beenden eines Studiums im 16. Semester aufgrund einer durchgefallenen Prüfung.

Auch unser Lebensalter spielt dabei eine Rolle. Wenn wir älter werden, haben wir es gelernt, mit negativen Erfahrungen umzugehen und können diese relativieren[4]. Aber das zunehmende Lebensalter ist auch mit dem Gefühl der Vergänglichkeit verbunden. Wenn sich angestrebte Ziele im Lebensalter von 30 Jahren als nicht umsetzbar herausstellen, ist es einfacher, neue Wege zu gehen, als wenn sich diese Situation im Alter von 60 Jahren ergibt.

3. Das eigene Selbstwertgefühl

Eine inhaltliche Definition von Scheitern lautet, dass es gemachte Fehler, verbunden mit Scham seien. Scham entsteht durch die Augen der anderen, indem sie einen auf eine bestimmte Art und Weise sehen, wobei der Begriff sehen „bewerten“ bedeutet[5]. Je abhängiger sich ein Mensch von der Bewertung anderer macht, desto intensiver kann er sich dem Gefühl der Scham ausgesetzt sehen. Dies bedeutet im Umkehrschluss: Je weniger ein Mensch von der Bewertung anderer abhängig ist und damit mit je mehr Selbstwert er durch das Leben geht, desto weniger sind seine Gedanken mit den Themen wie Scham und Scheitern behaftet.

4. Das Leben ist ein Fluss

und alles ändert sich[6]. Je mehr ein Mensch die Situation des ständigen Änderns und Weiterentwickelns in sein Leben aufnimmt, desto weniger betrachtet er Änderungen als eine relevante Abweichung und damit als ein Nichterreichen des von ihm zu erreichenden Zieles. Notwendig zur Gelassenheit ist die Differenzierung, was veränderbar und was nichtveränderbar ist. Hieraus resultiert eine Taoistische Grundhaltung: Die Konzentration auf das Veränderbare und das gelassene Zur-Kenntnis-Nehmen des Unveränderlichen[7]. Wer sein Leben ständig an von ihm festgesteckten Zielen ausrichtet, ist bei jeder Änderung von der geplanten Richtung mit der möglichen Bewertung des Scheiterns konfrontiert.

Die Quintessenz der vorgenannten Ausführungen ist, dass es keinen objektiven Maßstab für das  Scheitern gibt. Was als Scheitern bewertet wird, nimmt jeder Mensch individuell für sich selbst an. Wenn etwas als Scheitern bewertet wird, löst es Aspekte von Angst, Hilflosigkeit, Unkontrollierbarkeit und Einsamkeit aus.

Fehler werden wir ein Leben lang ständig machen. Wie können wir es vermeiden, dass wir das, was wir als Fehler ansehen, nicht auch noch als Scheitern bewerten (müssen)?

IV. Bewertung des Scheiterns vermeiden

Wenn wir diese Frage, wie wir ggü. uns selbst den Bewertungsmassstab des Scheiterns vermeiden  – damit diese Bewertung  erst gar nicht entsteht – beantworten können, dann hat der Umstand der hohen medialen Präsenz des Scheiterns einen Sinn (gehabt).

Da jeder von uns in seiner eigenen Bewertungs-und Gedankenwelt lebt, gibt es keine Möglichkeiten, die für jeden von uns gelten. Nachfolgend werden einige Ideen vorgestellt, wie man sich mit diesem Thema auseinandersetzen kann und im Zuge dessen weiter an sich und mit sich lernt-und sich letztendlich ein Leben lang weiterentwickeln kann. Was zu einem passt, muss letztendlich jeder selbst für sich herausfinden.

1. Toleranz gegenüber Fehlern

Je größer die Bedeutung von Fehlern in der Wahrnehmung des täglichen Lebens ist, desto bedeutsamer ist das Nichterreichen von Zielen in unserer Gedankenwelt. Oder andersherum ausgedrückt: eine größere Toleranz gegenüber eigenen Fehlern und denen anderer Menschen lässt uns vom Thema des Scheiterns weiter entfernt stehen.

Um für sich selbst eine von Toleranz geprägte Fehlerkultur zu entwickeln, können nachfolgende Schritte hilfreich sein. Es geht dabei darum zu erkennen, wie oft wir Fehler machen[8]:

(a) Rückblick

Rückblick auf den heutigen und gestrigen Tag und dann auf die vergangene Woche: Wann und wie sind Fehler passiert? Wie habe ich darauf reagiert?

(b) Fehlereinteilung

Einteilung dieser Fehler in leichte Fehler (z.B. mangelnde Konzentration), einmalige Fehler, hartnäckige Fehler und zu guter Letzt Lieblingsfehler, mit denen man weiterleben möchte.

(c) Umgang mit Fehlern

Überlegung zum zukünftigen Umgang mit diesen Fehlern:

  • Leichte Fehler: Abstellen – Vergeben – Vergessen
  • Einmalige Fehler: Nicht ärgern – Überlegen, was falsch gelaufen ist – Trocken üben – Weitermachen
  • Hartnäckige Fehler: Visualisieren und Verschriftlichen (z. Bsp. mit einem Reim oder einem verfremdeten Schlagwort oder einer kurzen plakativen Geschichte). Schreiben Sie sich eine Notiz zur Erinnerung, die Sie bei Erledigung wegwerfen oder in einem Kasten ablegen.

2. Eigene Werte leben

Je mehr wir uns für die Werte einsetzten und diese Werte leben, die uns wichtig sind, desto weniger sind wir vom Wandel des Lebens getroffen. Im Hinblick auf das eigene Leben relevante Fragen können daher lauten: Was begeistert mich? Was sind die Säulen in meinem Leben? Diese Säulen können beispielsweise sein: Leistung/Beruf, Sicherheit/Materielles, Soziales/Umwelt, Körperlichkeit/Gesundheit und Werte/Grundhaltungen.

Nehmen Sie sich Zeit für die Beantwortung der Frage, wie groß diese Säulen in Ihrem bisherigen Leben aufgebaut worden sind. Zeichnen Sie ein Säulendiagramm als Ist-Zustand und daneben die Säulen in dem Zustand und damit der Breite, den Sie gerne erreichen möchten.

Wenn es derzeit dünne Säulen im Vergleich zu gewünschten dicken Säulen gibt, besteht möglicherweise der Wunsch, die durch diese Säulen dargestellten Wert noch umzusetzen. Dabei gilt es, nichts von heute auf morgen vollständig über Bord zu werfen. Denn alles was wir Menschen tun,  hat zu der Zeit, zu der wir es getan  haben, seinen Sinn (gehabt). Es sind die kleinen Veränderungen, aus denen neue Entwicklungen und Ideen entstehen. Sinnvoll ist es dabei, im Äußeren anzufangen und das erstmalig oder mehr zu tun, woran man Freude und Erfüllung verspürt.

3. Das Leben als Abenteuer

Zu der Erkenntnis „aus Fehlern lernt man“ zu gelangen ist bei eigenen Fehlern schwer. Notwendig hierfür ist, dass sich die Sicht auf die eigenen Fehler weitet und wir von diesen weiter entfernt stehen können.

Diese weit entferntere Sicht auf das eigene Geschehen können Sie erreichen, indem Sie Ihr Leben als Abenteuer erzählen. Diese Erzählung können Sie für sich selbst aufschreiben oder einer anderen Person, der Sie nahestehen, berichten.

Denken Sie im ersten Schritt an die Abenteuer und die Abenteurer, von denen Sie in Büchern, Erzählungen oder Reportagen gehört haben und die Sie fasziniert haben. Erzählen Sie nunmehr Ihr Leben bis zu der Situation und damit dem Zeitpunkt, den  Sie kritisch bewerten, als ein Abenteuer aus der Sicht des Abenteurers, der dies erlebt hat.

Und da ein Abenteurer sich bewusst den Herausforderungen stellt, die er eingegangen ist, erzählen Sie das Abenteuer über den Zeitpunkt der kritischen Situation hinaus weiter:  Wie der Abenteurer, der Sie in dieser Geschichte sind, mit dieser kritischen Situation umgegangen ist? Auf welche Ideen ist er gekommen? Welche Rückschlüsse hat er gezogen? Wozu hat er einen Verlust, der ihm in diesem Abenteuer entstanden ist, erlebt? Ist das Abenteuer gut ausgegangen?

Über diese Abenteuer-Erzählung können Sie Ihren bisherigen Denkmustern, die Ihnen zu einer bestimmten Situation entstanden sind, eine Auszeit geben und neue Perspektiven und Lösungsansätze entwickeln.

4. Blick auf die eigenen Ressourcen

Wenn etwas nicht so klappt, wie wir es uns vorgestellt haben, kann die Sichtweise auf das, was nicht funktioniert schnell einen wesentlichen Stellenwert einnehmen. Daher ist es ein dem Scheitern entgegentretendes Anliegen, den Blick auf die Ressourcen gerichtet zu halten und diesen Blick nach Möglichkeit zu stärken. Hierzu hilfreich können folgende  Fragestellungen sein:: Was gelang mir in der Vergangenheit? Was waren und sind meine Ressourcen (auf die ich aufbauen kann)? Wie waren die Bedingungen einer damaligen Situation, in der ich in einer ähnlichen Lage war? Zu welchen Ideen inspiriert mich dies?

Und auf diese Ressourcen, die wir in uns tragen und die möglicherweise in kritischen Situationen etwas verschüttet werden, kann wiederaufgebaut werden. Dabei sind es – wie bereits vorstehend ausgeführt – nicht die großen Veränderungen, sondern die kleinen Schritte, die auf einen neuen Weg oder eine veränderte Richtung führen.

5. Die Identifikation mit unseren Gedanken

In von uns als negativ wahrgenommenen Situationen kann es sein, dass wir immer wieder zu den gleichen Gedanken kommen und uns dabei deren Inhalt so überwältigt, dass er uns an einem weiteren Handeln blockiert. Es fällt uns schwer, den Unterschied zwischen den Gedanken und seinem Inhalt zu erkennen.

Die sogenannte Defusion hat den Zweck, die Identifikation mit den Gedanken aufzuheben. Dies erfolgt durch eine Verdinglichung bzw. Verfremdung der Gedanken[9]. Versuchen Sie dies einmal, indem Sie spielerisch mit Ihren Gedanken umgehen. Dies kann beispielweise dadurch geschehen, dass Sie einen oft vorkommenden Gedanken verändert vortragen, z.B. durch Tempowechsel, singend oder in einer anderen Tonlage. Eine andere Variante ist es, dass Sie vor jeden Gedanken, mit dem Sie sich beschäftigen, die Formulierung voranstellen „Ich habe den Gedanken, dass ….“

Diese Übungen können bei jedem Gedanken, der im Laufe des Tages auftaucht, gemacht werden. Sie dient dazu, unsere Gedanken in eine veränderte Umgebung zu stellen, in der sie als Gedanken erkennbar werden. Dadurch, dass der jeweilige Gedanke so herausgehoben wird, besteht keine Gefahr, dass wir ihn mit seinem Inhalt verwechseln.

6. Resume

Diese Übungen und Ideen sind Anregungen,  mit Gelassenheit und dem Fokus auf die eigenen Werte gegenüber dem Scheitern immun zu werden. Denn der Begriff des Scheiterns ist kein objektiver Wertmaßstab, sondern letztendlich nur eine Bewertung, die wir in uns und für uns selbst vornehmen. Damit sind wir auch die einzigen, die diese von uns aufgestellte Bewertung wieder aufheben können.

Carsten Lange
Fachanwalt für Insolvenzrecht
Mediator/Wirtschaftsmediator (DAA)
Coach


[1] „Erfolgreich scheitern“ bei 3sat am 2.5.2017.
[2] www.museumoffaliure,se.
[3] Bude, Spiegel-Wissen Richtig Scheitern, S. 37.
[4] Irmtraud Tarr, Das Donald Duck Prinzip, S. 101.
[5] Irmtraud Tarr, S. 58.
[6] Zitat von Jack Kornfield.
[7] Eleonore Höfner/Hans-Ulrich Schachtner, Das wäre doch gelacht, S. 58.
[8] Felix Maria Arnet, Gescheit Scheitern, S. 79.
[9] Michael Waadt, Jens Acker, Burnout, S. 105.